30.01.2010 - Tages-Anzeiger

Strassen am Rande des Nervenzusammenbruchs

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Zuständig für die hohen Mobilitätsbedürfnisse in Zürich: Jürg Christen.

Ob zu Fuss, im Auto, auf dem Velo oder im Tram: Unterwegs erlebt man den Verkehr aus subjektiver Sicht. Die Kolonne in der Langstrasse. Das Tram, das einem vor der Nase wegfährt. Die Warterei vor dem Rotlicht. Auch Jürg Christen sieht den Stau, das Tram, die Ampel – jedoch immer im grossen Zusammenhang. Mit der Ampel vor der Kolonne, der Baustelle danach. Als Chef Verkehrssteuerung beim Polizeidepartement gilt sein Blick der Optimierung des Verkehrsflusses. Christen managt die Zürcher Verkehrsströme durch die schwierigen Baustellenzeiten und wirkt dabei im Gespräch manchmal wie ein Arzt, der alles tut, um seinen operierten Patienten zu stabilisieren. Denn seine grösste Sorge ist der Kollaps.

Herr Christen, vor Monaten waren die flankierenden Massnahmen fast ein Fluchwort. Heute wird kaum noch darüber gesprochen. Ist plötzlich alles gut geworden?
Wir sind auf Kurs, das Verkehrsvolumen liegt um 38 Prozent tiefer als vor einem Jahr, weil der Transit tatsächlich um die Stadt herum läuft. Wenn Sie heute in Zürich einen Lastwagen sehen, ist der in der Regel für eine Anlieferung unterwegs. Aber zufrieden, das bin ich eigentlich nie.

Wieso?
Unser Job ist es, den Verkehrsfluss zu optimieren. Je mehr man aber optimiert, desto fragiler wird das System. Ein Beispiel: Heute Morgen, ich war auf einem Kontrollgang,

staunte ich an der Weststrasse über eine Kolonne. Die hätte es gar nicht geben dürfen, die Grünzeiten sind tipptopp eingestellt.

Warum gab es sie trotzdem?
Der Grund ist genauso simpel wie typisch. Ein Lastwagen war für die Papiersammlung unterwegs, stoppte hier mal kurz, dort etwas länger. Das klingt nach nichts, zieht aber sofort Behinderungen nach sich.

Das klingt, als ob das Zürcher Strassennetz immer kurz vor dem Kollaps stünde.
Der Spielraum ist zumindest sehr eng. Wegen der drei Grossprojekte Westumfahrung, Sanierung der Hardbrücke und Umbau der Pfingstweidstrasse fehlen fast alle Ausweichflächen. Wenn auf der Hardbrücke ein Baulaster oder ein Pannenfahrzeug nur eine Minute lang eine Spur blockiert, hat das sofort Staus zur Folge. Passiert dies kurz vor den Abendspitzen, erholt sich das System erst nach 21 Uhr.

Wäre es nicht klüger gewesen, die drei Grossprojekte gestaffelt abzuwickeln?
Nein, dann hätte der Engpass einfach drei mal drei, also neun Jahre gedauert. Denn bestimmend für die Kapazität ist immer das schwächste Glied. Unser Kunststück war, dass wir in Absprache mit dem Kanton schon weit voraus Kapazitäten definiert hatten. An diesen haben wir festgehalten – ungeachtet aller Ereignisse und politischer Einsprachen. Und bis heute sind wir gut damit gefahren.

Vorwürfe hagelte es, weil Sie die flankierenden Massnahmen zwei Tage vor der Eröffnung des Uetlibergtunnels in Kraft setzten. Die Stadt riegle sich ab, hiess es.
Normalerweise sperrt man alte Strassen erst, wenn die neuen da sind. Wir sind nach langem Überlegen zu einem anderen Schluss gekommen. Hätten wir erst am Montag mit den flankierenden Massnahmen begonnen, wäre das Chaos viel grösser geworden, und wir hätten Unfälle riskiert.

Sie hätten auch einige Wochen länger warten können.
Dann wären die Autos einfach wie bisher durch Zürich gefahren. Und der Gesamtverkehr hätte zugenommen.

Trotzdem forderten bürgerliche Kantonspolitiker die Entmündigung Zürichs in Sachen Strassen.
Das habe ich nicht verstanden. Alles war mit dem Kanton abgesprochen, sorgfältig geplant. Auch das Ziel war klar, den Verkehr durch die Stadt zu reduzieren. Dazu gab es keine andere Lösung.

Haben Sie das zwischenzeitliche Chaos vorausgesehen?
Umstellungen brauchen Zeit. Autofahrer müssen sich an die neuen Bedingungen gewöhnen, der Verkehrsstrom pendelt sich langsam ein. Und jetzt beobachten wir den Verkehr sehr genau und reagieren, falls etwas nicht läuft.

Haben Sie ein Beispiel?
Die Sperrung der Sihlrampe. Geplant war die nicht. Wir haben aber schnell festgestellt, dass die paar Autos, die sie benutzen, den einspurigen Verkehr auf der Hardbrücke so ins Ruckeln bringen, dass die Achse unter die mögliche Kapazität von 1000 Autos in der Stunde fällt. Die wenigen Autos fahren nun über den Wipkingerplatz.

Wie stark beeinflussen politische Vorgaben Ihre Arbeit?
Unsere wichtigsten Aufgaben sind, eine hohe Sicherheit zu gewährleisten und Lösungen für alle Verkehrsteilnehmer zu finden. Unser Handlungsspielraum ist gering: Der Raum ist beschränkt, die Strassen eng und immer mehr Leute darauf unterwegs.

Und dass der öffentliche Verkehr Vorrang hat, ist keine politische Vorgabe?
Ist es, aber diese Priorisierung drängt sich auch aus fachtechnischer Sicht auf. Ein Beispiel: In einem Tram haben 300 Menschen Platz. Würden diese einzeln in einem Auto sitzen, machte das 300 mal 5 Meter für die Autolänge, mal 3 Meter für den Abstand. Sie hätten also statt eines Trams eine Autoschlange von fast 2,5 Kilometer Länge. Wenn dies auf jedes Tram, das am Hauptbahnhof hält, zutreffen würde, käme es sofort zum Verkehrskollaps.

Das Zürcher Strassennetz funktioniert also momentan recht gut. Was aber sagen Sie den Anwohnern der Breitensteinstrasse, wo die Durchfahrtszahlen neuerdings fast Gotthardwerte erreichen?
Ich verstehe das Problem, aber es ist unmöglich, diese Strassen auch noch zu sperren. Wir müssen den Verkehrsstrom irgendwo durchleiten. Das Einzige, was ich sagen kann: Mit der Eröffnung der Hardturmrampe Ende April wird sich die Situation an der Breitensteinstrasse wieder bessern.

2011 werden die drei Grossbaustellen beendet sein. Lassen Sie dann wieder mehr Autos in die Stadt?
Nein, dafür fehlt der Platz. Die Lage wird sich aber nach 2011 stabilisieren. Wir werden Störungen, wie etwa einen Unfall, besser auffangen können. Das macht den Verkehr berechenbarer. Auch Quartiere werden entlastet sein.

Das klingt gut. Doch wird die Zahl der Autofahrer nicht weiter steigen?
Wir nehmen es an. Zürich ist ein Ballungsraum für 1,4 Millionen Menschen. Das Mobilitätsbedürfnis steigt ständig. Und es gibt schon jetzt mehr Blech als Asphalt.

Mit Jürg Christen sprachen Beat Metzler und Marcel Reuss

Westumfahrung: Die nächsten Schritte

Auf der Hardbrücke werden ab April die Auffahrt und die Abfahrt Hohlstrasse gesperrt sein. Ebenso die Abfahrt Geroldstrasse. Weiterhin gesperrt bleiben die Auffahrten Pfingstweidstrasse und Sihlquai. Die Abfahrt Hardturmstrasse hingegen wird im April wiedereröffnet werden. In beiden Richtungen befahrbar sein wird ab Sommer die Seebahnstrasse. Im Gegenzug wird die Weststrasse für den Durchgangsverkehr gesperrt und bis 2011 zur Quartierstrasse umgebaut. (reu)